Erkenntnis # 9: Flucht ist nicht immer eine Lösung!
In der Psychiatrie hat man Zeit. Sehr viel Zeit! Die erste Zeit habe ich entweder mich meinen Heulkrämpfen hingegeben oder geschlafen. Ich habe mich nicht aus meinem Bett bewegt. Und selbst wenn das nicht mehr ausgereicht hat, habe ich noch die schützende Decke über meinen Kopf gezogen. Aber schützen vor was? Vor Allem um mich herum? Den Menschen? Dem Lärm? Dem Druck? Wo kommt dieser innere Druck her, der mit jedem Tag unerträglicher wird? Es ist als ob man explodiert und alle Körperteile in kleine Fetzen zerreißt. Bilder laufen vor meinem inneren Auge ab – Bilder, die ich schon längst vergessen wollte. Bilder aus meiner Kindheit. Bilder von glücklichen Menschen. Bilder, von allem und jedem. Es tut weh, aber ich weiß nicht warum. Wovor habe ich Angst? „Zeit heilt alle Wunden“ – So heißt es zumindest. Was, wenn die Wunden aber nicht verheilen? Was, wenn jeden Tag Salz hinein gestreut wird? Was, wenn der eigene Körper einem nicht erlaubt, diese Ereignisse und Erinnerungen zu vergessen? Warum wird man gezwungen all die Qualen jedes Mal wieder zu fühlen – zu erleben, wenn es einem schlecht geht? Und nicht etwa in gut dosierter Art und Weise. Sondern alles auf einmal. Die volle Dröhnung. Mit bildlicher Verdeutlichung und Geräuschen untermalt. Warum wird man von sich selbst auf so eine absurde Art gequält und gedemütigt? Warum kann man keinen Frieden mit sich selbst finden? Ich weiß es nicht. Die Zeit, nachdem ich aufgehört habe durchgängig zu weinen, habe ich mit nachdenken verbracht. Das war noch schmerzhafter als sich dem inneren Druck einfach hinzugeben. Ich wusste nicht was mit mir falsch läuft. Einmal bemerkte ich bei meiner Psychologin, dass ich das Gefühl habe, dass ich mein ganzes Leben vor Allem wegrenne. Vor Menschen, vor Erinnerungen, vor Gefühlen. Sie lachte kurz auf und meinte: „Sie rennen vor all diesen Dingen nicht weg. Sie rennen nur vor einem einzigen Menschen weg. Der hat Asperger und sitzt in diesem Moment genau vor mir.“ Das saß! Aber warum sollte ich ausgerechnet vor mir selbst wegrennen? Ich bin anders und wollte in meinem ganzen Leben nichts anderes als dazu gehören. Aber dies war schlicht unmöglich. Denn jedes Mal, wenn ich es stärker versucht habe mich anzupassen und dazu zu gehören, tat ich es weniger und desto mehr litt ich. Umso mehr wollte ich dazu gehören. Es ist ein nicht enden wollender Kreislauf. Warum ausgerechnet ich? Dieses „normal sein“ hat mich mehr als alles Andere in meinem Leben geprägt. Jeden Tag bekommt man aufs Neue vorgezeigt, wie anders man doch ist. Dinge, die alle für selbstverständlich halten, versteh ich einfach nicht. Sie sind so unlogisch, dass es mir ein Rätsel ist, wie es jedem anderen nur so verständlich sein kann. Und dann gibt es die Situationen, wenn sich alle aufregen, weil eine Aufgabe zu schwierig wäre und es doch eh kein normaler Mensch verstehen würde. Da sitz ich nun – mit der Lösung. Aber es würde in dem Moment nichts bringen, meinem Umfeld die Simplizität des Sachverhaltes darzulegen, da sie es eh nicht hören möchten.
Ich sitze also hier und denke über Gott und die Welt nach. Es tut jeden Tag aufs Neue weh. Und immer wieder schwirren die Worte in meinem Kopf, dass ich nur vor mir selbst wegrenne. Aber wie will man vor sich selbst wegrennen? Ich mein, das geht doch nicht? Man ist doch in seinem Körper gefangen und in all dem, was dieser schon durchmachen musste. All das, was man ihm angetan hat. All die Schmerzen. Wie soll man aufhören, vor sich selbst wegzurennen und sich selbst zu akzeptieren, wenn es immer so unendlich weh tut, wenn man versucht sich seiner Vergangenheit und sich selbst zu stellen? Wie findet man seinen Frieden mit sich selbst, wenn man immer das Gefühl hat, nicht gut genug zu sein, nicht in diese Gesellschaft hinein zu passen, anders zu sein? Ich weiß, ich kann vor mir selbst schlecht weglaufen, aber wie wird es einfacher mich mir selbst zu stellen? Meine Wunden heilen zu lassen? Mich selbst zu akzeptieren, dass ich gut so bin, wie ich eben bin? Ich mein, ich kann es eh nicht ändern und wahrscheinlich ist dies sogar gut so. Ich möchte nur einmal das Gefühl haben, dazuzugehören und einer von Vielen zu sein. „Normal“ zu sein.
ich - einfach kompliziert am 29. September 18
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